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Der Garten aus Glas von Tatiana Ţîbuleac

Eine andere Welt. Andere Verhältnisse. Alles anders zu dem, was ich aus meinen Kindertagen kenne.Wenn das Glück darin besteht, der Gewalt einmal zu entgehen. Wenn Kindheit nur ein Wort aus einer fernen Erzählung ist. Wenn Frauen sich zusammentun, um nicht das Wenige zu teilen, sondern gnadenlos Geschäfte zu machen. Weil Geschäfte zu machen nicht nur das Überleben sichert, sondern auch den Kopf oben belässt. Die Autorin Tatiana Ţîbuleac bringt unprätentiös auf den Punkt, was es heißt, in Armut im Moldawien der Achtziger- und Neunzigerjahre hineingeboren zu sein. Als Kind, als heranwachsende Frau, in einem der Höfe der Stadt. Sie erzählt die Geschichte von Lastotschka, die sich, inzwischen zur Chefärztin hochgearbeitet, an ihre Kindertage erinnert, zunächst im Waisenhaus, danach als Flaschensammlerin bei ihrer Ziehmutter Tamara Pavlovna. Dabei verwendet Ţîbuleac eine Erzählweise und Sprache, die zugleich poetischer nicht sein könnte. Manche Sätze treffen wie Nadeln ins Fleisch. Und bleiben doch wertungsfrei. Das zeichnet die vormalige Journalistin Tatiana Ţîbuleac besonders aus. 1978 in Chişinău in der heutigen Republik Moldau geboren und seit 2008 als Schriftstellerin in Paris lebend …

„Serge“ von Yasmina Reza

Die Schriftstellerin Yasmina Reza kenne und bewundere ich spätestens seit der Verfilmung ihrer Romanvorlage „Der Gott des Gemetzels“ mit Jodie Foster, Christoph Waltz und anderen Hollywood-Granden. Beklemmend und mit viel Wortwitz spielt sich hier ein irre spannendes Sittenportrait großbürgerlicher Dekadenz ab. Nur auf die Idee gekommen, etwas von ihr zu lesen, bin ich nun doch wieder nicht. Und da leiht mir kürzlich eine gute Bekannte „Serge“ und ich finde das Buch von der ersten Seite an ungemein unterhaltsam. Eine jüdisch-französiche Familie besucht Auschwitz Auf Vorschlag von Serges Tochter Joséphine besuchen die drei nicht mehr ganz jungen Popper-Geschwister Serge, Jean und Nana gemeinsam Auschwitz, um ihren ungarisch-jüdischen Wurzeln nachzugehen. Selbst an diesem Ort geht das kleinteilige Hickhack zwischen den Geschwistern munter weiter, kommen Kränkungen, unerwünschte Einmischungen und Unzufriedenheiten auf den Tisch. Aber auch Vermittlungsversuche und das Faktum eines unauflösbaren gemeinsamen Bandes werden sichtbar. Der charismatische Schwerenöter Serge ist übrigens sowohl im französischen Original als auch in der deutschen Übersetzung titelgebend. Sein weitaus zurückhaltenderer Bruder Jean wird sich als Ich-Erzähler herausstellen. Meisterin von unbestechlicher Klarheit Die Sätze …

Hinter den Kulissen einer Buchhandlung. Mein Kurzzeit-Praktikum

Vorne im Verkaufsraum einer Buchhandlung stand ich schon oft. Bestaunte Buchrücken um Buchrücken und musste mein Geldbörserl fest an mich gedrückt halten. Denn was anderen mit Kleidung oder Sportartikeln passiert, geschieht mir in einer Regemäßigkeit mit Büchern. Ich werde unvernünftig. Ich kaufe mehr ein, als ich brauche und was das Allerschlimmste ist: ich bereue es nie! „Darf ich hier ein freiwilliges Praktikum machen?“ Mit dieser Frage stand ich eines schönen Tages im April in der „Lainzer Grätzlbuchhandlung“ im 13. Bezirk vor Helena Prinz, der Inhaberin. Das kleine und feine Buchgeschäft ist bereits in dritter Generation in Frauenhand und bis obenauf und manchmal darüber hinaus mit Büchern und ausgewählten Papeteriewaren versehen. Neu erschienene Romane und Erzählungen, Bildbände zu Triest und Sachbücher sind hier zu finden. Und immer noch gibt es eine verborgene Schublade in dem einräumigen Geschäftslokal zu entdecken, aus der Anlasskarten oder Mitmachbücher für Kinder hervorgezaubert werden. Eine Buchhandlung eröffnen? Wie realistisch ist es, statt nur Bücher zu lesen und über diese zu schreiben, sie auch zu verkaufen? Geht das ohne Buchhandelslehre? Wie kann die …

Eine ukrainische Familiengeschichte „Rote Sirenen“

Ja, ich bin auch so eine von denen. Vor Beginn des Ukrainekriegs letzten Jahres, wusste ich im Grunde nationalgeschichtlich und geopolitisch zur Region in und um die Ukraine erschreckend wenig. Die Annektierung der Krim im Jahre 2014 haben wir im Freundeskreis zwar an unseren Bildschirmen verfolgt und zum Teil heftig diskutiert, aber immer mit einer gewissen hilflosen Distanz. Umso mehr hat mich der Roman „Rote Sirenen“ über eine ukrainische Familiengeschichte regelrecht „angesprungen“. Kann ich womöglich mehr über diese Region und aus der Binnensicht erfahren? Eine Auslandsukrainerin als Autorin Der Roman stammt aus der Feder von Victoria Belim, einer gelernten Parfümeurin, Journalistin und Bloggerin zu Düften, die als Teenager mit ihren Eltern in die USA migrierte und heute in Belgien lebt. Mehrheitlich spielt das autobiografische Werk in der zentralukrainischen Region Bereh, wo die Auslandsukrainerin Belim sommerweise glückliche Kindheitstage in den Gärten ihrer Großmutter verbrachte. Spurensuche in der Heimat Nach einem aktuellen Streit mit ihrem Onkel versucht die inzwischen junge Erwachsene nicht nur den Kontakt mit ihrer noch immer in Bereh lebenden Großmutter wieder zu intensivieren, sondern …

Die Wut, die bleibt oder Coronas lange Schatten

Lange habe ich mich nicht an ein „Coronabuch“ herangewagt. Zu nah dran am eigenen Leben, zu unlustig. Und wie so viele wollte auch ich mich zu Beginn der Coronapandemie in der Hoffnung wiegen, dass schon bald alles (wieder) gut wird. Und irgendwie kam dieser Punkt in den ersten eineinhalb Jahren so richtig nie: zunächst die ungreifbare Krankheit selbst, dann die Maßnahmen und schließlich all die Konflikte, die mit den Maßnahmen einhergingen, inklusive der psycho-sozialen Folgeerscheinungen, ganz zu schweigen von der selbstverständlichen Mehrfachbelastung von Familien und insbesondere der Frauen in den Familien. Der soziale Kitt wurde zum sozialen Druck und zur Überforderungsfalle für Frauen. Und genau hier setzt der Roman „Die Wut, die bleibt“ der 1983 in Hallein bei Salzburg geborenen Autorin Mareike Fallwickl an. Sie bringt es nüchtern auf den Punkt, wenn sie folgendes Gedankenexperiment schriftstellerisch umsetzt: was, wenn eine Frau und Mutter sich dieser Zumutung nicht mehr stellen will oder kann und einfach ernst macht? Wenn die dreifache Mutter Helene – so heißt sie im Roman – eines Tages unangekündigt vom gemeinsamen Abendessen aufsteht, …

Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt verändern

Wahrscheinlich habe ich es insgeheim schon immer gewusst, dass Fahrradfahren vor allem etwas mit Freiheit und Selbstbestimmung zu tun hat. Schon als junges Schulmädchen, als ich mein liebevoll als „alter Göppel“ bezeichnetes Fahrrad tagtäglich aus der Garage schob und wusste, dass ich den Abfahrtszeitpunkt bestimme und nicht der Busfahrplan. Das Fahrrad stammte aus der Nachkriegszeit, mein Großvater hatte es stolz für mich aus dem Schuppen gekramt.Und später beim Ausgehen, als das Rad – inzwischen verfügte ich schon über eins mit mehreren Gängen – nicht nur die kostengünstige Variante zum Taxi darstellte, sondern mich auch noch zur Unzeit sicher nach Hause brachte. Was ich allerdings so gar nicht wusste, ist, dass Fahrradfahren verdammt viel mit Frauenemanzipation zu tun hat!! Dieses Wissen verdanke ich dem Buch „Revolutions. Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten“ von Hannah Ross. Die Farradpionierinnen Da lese ich von Frauen, die Ende des 19. Jahrhunderts mit ihren damals noch wahrlich unpraktischen langen und wallenden Kleidern die ersten Fahrräder, Dreiräder und Hochräder, bestiegen, um diese neue Art der Fortbewegung auszuprobieren. Entgegen aller Unkenrufe …

„Die Bagage“ von Monika Helfer

Der Roman „Die Bagage“ ist ein handliches Buch, es umfasst gerade mal 159 Seiten. Die Autorin Monika Helfer hat ein sehr klares Buch geschrieben, jedes Wort sitzt und jeder Satz. Und doch hallt die Atmosphäre lange nach. Schließlich ist dieser Familienroman auf betörend-nüchterne Weise aufrüttelnd und zeigt, was es heißt, abhängig zu sein. In einem Dorf, als Frau, während der Zeit des Ersten Weltkrieges und knapp nach Kriegsende. Eine Jederfrau-Geschichte auf der Shortlist Persönliche Familienerinnerungen aus ihrer Kindheit hat die Autorin geschickt in die Romanerzählung eingewoben. Als „Bagage“ – in etwa schlechter Umgang, arme Leute – wird die am äußersten Dorfrand lebende Familie ihrer Großeltern Maria und Josef zeitlebens abschätzig genannt und findet sich nun titelgebend wieder. Die Schriftstellerin Monika Helfer stand zurecht mit „Die Bagage“ 2020 auf der Shortlist des österreichischen Buchpreises. Wie sie es schafft, eine Geschichte – im Grunde ihre eigene Vorgeschichte, die Zeit bevor ihre Mutter geboren wurde – so zu erzählen, dass sie zu einer Jederfrau-Geschichte während der Kriegsjahre im bäuerlich-ländlichen Raum werden kann, finde ich beeindruckend. Ihre sprachliche Präzision …

Wut tut gut?? Wutbücher wissen mehr

Hallo liebe Wut! Ich hasse dich, ich liebe dich. Du bist mir größtes Ärgernis, doch ohne dich hätte ich wiederum vieles nicht erreicht. Jedenfalls haben du und ich ein Thema, das merk ich wohl. Bist du nun echt meine Freundin, wie Wut-Pädagog*innen gerne behaupten? (So etwa gehört und gelesen bei Ruth Abraham oder Kathrin Hohmann.) Oder darf ich getrost weiter auf dich wütend sein, weil du mich so anstachelst, so schwarzmalerisch werden lässt und mich auf Distanz bringst zu all den anderen? Und wenn auch nur für einen Moment. Und erst die Scham danach, das schlechte Gewissen nach einer Schimpforgie … Gut, seit der Wutbürger schick wurde und der Gutmensch/die Gutmenschin nun auch mal auf den Tisch hauen darf, geht es mir schon bedeutend besser. Hätte es die „Climate Change“-Bewegung ohne Wut je gegeben?? Und so erlebe ich eine allmähliche Annäherung an die Wut, die mich seit frühesten Kindheitstagen begleitet und die ich so schön regelmäßig bei meinen eigenen Kindern wiederentdecken darf. Häh, ist Wut etwa vererbbar? Oder ist Wut einfach allgegenwärtig, aber der Umgang …

Ein Buch für diesen Sommer: Das Land der Anderen

Obwohl kein typisches Sommerbuch, die Dünen fehlen, kein strafversetzter Kommissar ermittelt und auch kein Liebesschwur kommt vor, so ist „Das Land der Anderen“ doch meine klare Sommerempfehlung. Literaturbegeisterte finden in diesem Buch von Leïla Slimani alles, was es braucht, um sich lesend in einen fernen Kontext zu verlieren und etwas klüger daraus wieder aufzutauchen. Der Roman der französisch-marokkanischen Autorin und Prix Goncourt Preisträgerin, der im Marokko der Nachkriegsjahre spielt, kennt Tragisches und Gewalt, aber das Bild, das zurückbleibt, sind starke Figuren, die dem Leben nicht nur etwas abtrotzen, sondern es auch mit ihren Visionen und ihrer Beharrlichkeit durchtränken. Kargheit, flirrende Hitze und Widerständigkeit Im Zentrum der Geschichte steht ein ungleiches Paar, die starke und lebendige Französin Mathilde und Amine, der ernste Marokkaner mit den schönen Gesichtszügen. Zerrissen zwischen Tradition und Moderne, zwischen Aufbruch und Resignation verdingt Amine sein Leben mit der Fruchtbarmachung an sich unfruchtbaren Bodens. Mathilde sieht ihren Mann selten und zieht unter der flirrenden Hitze in der Abgeschiedenheit ihres einfachen Hauses deren beiden Kinder groß und beginnt in Ermangelung einer erfüllenden Aufgabe eine …

Schreibtisch mit Aussicht Portrait Christine lesend

Schreibtisch mit Aussicht

Zu meinem Geburtstag Anfang des Jahres – genaugenommen am wirklich allerersten Tag des Jahres, zu Neujahr – hat mir mein Mann ein Buch geschenkt. Jetzt denkt vielleicht so manche/r „Gähn und Schnarchnase“, aber nicht, wer meinen Mann kennt. Jedes Buch aus seiner Hand ist eine Liebeserklärung an den oder die Beschenkte/n. Was mich anbelangt hat er zudem Humor bewiesen, denn es trägt den sinnigen Titel „Schreibtisch mit Aussicht“ und wer meinen Schreibtisch kennt, weiß, dass dieser auf eine Wand zeigt. Und die ist noch dazu in einem grässlichen Grün gestrichen. (Gut, die Farbe habe ich selbst zu verantworten, aber das ist wieder eine andere Geschichte.) „Stimmt’s Schatz?“ Das Buch ist auch inhaltlich definitiv eine in einen Buchdeckel eingeschweißte Liebeserklärung, nämlich an alle schreibenden Frauen und so wohl indirekt auch an mich als Verfasserin von Bloggingtexten. Weil das Buch und mein Mann mir damit wohl sagen wollen, dass ich mich nicht unterkriegen lassen soll, dass ich weiterschreiben soll, was auch die Widerfahrnisse sind, die mir im Alltag so begegnen. Weil andere das auch schon erlebt haben, …