Mit Kindern leben
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Kinder wollen selbstwirksam sein

Das fällt mir immer wieder auf. Kinder wollen selbstwirksam sein. Was meine ich damit? Sie wollen sich ausdrücken und kreativ sein, sie wollen neue Bewegungsabläufe ausprobieren und Dinge erschaffen/erfinden und das ganz alleine. Wenn wir ihnen dafür viel Raum und Zeit lassen und sie nicht zu sehr steuern.

Mut- und Geduldsprobe bei uns Erwachsenen

Das braucht manchmal eine ordentliche Portion Geduld von uns Erwachsenen, aber auch Vertrauen und Mut. „Kinder sind nichts für Feiglinge,“ betitelt der Achtsamkeitspädagoge Steve Heizer daher ein Buch und meint darin, dass wir uns ruhig einlassen dürfen auf ihre Logik. Selbstzurücknahme ist angesagt statt sofort dem ersten Helfen-Wollen-Impuls zu folgen oder das Sicherheitsnetz voll aufzuspannen. Das trifft zu, wenn ein Kind soeben versucht auf ein Klettergerüst am Spielplatz hochzuklettern und wir es begleitend beobachten, ohne voreilig einzugreifen.

Der Prozess ist wichtiger als das Ergebnis

Das gleiche gilt auch für Basteleien und Konstruktionen, die für Erwachsene wenig unmittelbar aussagen.

Der Moment, wenn du ein von Kinderhänden geformtes Knetding in die Hand gedrückt bekommst und dich dieses Kind erwartungsvoll mit glückseligen Augen anschaut und du zwar weißt, das ist jetzt echt der Hammer, da floss viel Hirnschmalz und Handarbeit rein und gleichzeitig schwitzt du, weil du weißt beim besten Willen nicht, was das sein soll!!

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Vielleicht brauchst du das auch gar nicht zu wissen. Es wurde dir ein wertvolles Geschenk übergeben, welches du bestaunen darfst und das Ergebnis eines Gestaltungsprozesses dieses Kindes war. Es braucht dann nicht mal ein „Wow“ oder eine Benennung. Es reicht anzuerkennen, dass hier ordentlich was überlegt, gemacht und umgesetzt wurde. Geschaffen. Und dankbar sein, dass dies in deine Hände gelegt wurde. Du darfst dieses Geschenk nun halten.

Selbstvergessen und voll von der Sache eingenommen

So könnte ich noch viel aufzählen. Die selbstgebauten Höhlen der Kleinkinder, die sie oft stundenlang in einer Selbstvergessenheit konstruieren, Geschicklichkeitsparcours, die Kinder entwickeln und durchlaufen oder auch die Bastelwerke aus Schere, Tixo und Klopapierrollen, die zu allem möglichen werden können, Schwerter und Fernrohre, aber auch Handmixer.

Und wenn wir dann von der Psychologie wissen, wie wichtig Selbstwirksamkeit für Resilienz ist, für ein gesundes Selbstbewusstsein, für das Vertrauen in die eigenen Handlungen und für die Widerstandsfähigkeit selbst in Krisenzeiten, dann ist das selbstermächtigte Tun zu fördern oder es gewähren zu lassen, ohne zu unterbrechen, kein Nebenschauplatz von Erziehung, sondern ihre Essenz.

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Das freie Spiel

In der pädagogisch-professionellen Begleitung gibt es verschiedene Modelle und Methoden, um Selbstwirksamkeit zu fördern oder erlebbar zu machen. Das „Freie Spiel“, das etwa auch in unserer elternverwalteten Kindergruppe tagtäglich viel Raum erhält, ist da besonders zu erwähnen. Das freie Spiel ist kein vorgegebenes Spiel, aber auch nicht ein komplett regelloses. Es gibt keine explizite Anleitung durch Erwachsene, sondern es wird stattdessen von den Erwachsenen ein Raum eröffnet, der den Kindern freie Hand in ihrer Wahl der Spielgefährt*innen und der Spielinhalte lässt. Es entstehen freie Projekte und Rollenspiele, ganz ohne Zutun der Erwachsenen. Die prozessbegleitenden Erwachsenen sind hierbei aufmerksam präsent. Sie stehen für Anfragen der Kinder zur Verfügung, sie helfen bei unlösbaren Konflikten und trösten, wo Trost vonnöten ist. Denn Konflikte sind unvermeidbar:

Wer selbstwirksam unterwegs ist, kommt notgedrungen manchmal auch in die Selbstwirksamkeitssphäre eines anderen.

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Frei spielen zuhause: XXL-Pokémonkarten und Musikshows

Bei unseren Kindern waren eine Zeit lang selbst gebastelte Pokémon-Karten in, die in überdimensionaler Größe auf der Rückseite von ausgemusterten A1-Plakatblättern entstanden. Der „Große“ gab vor, was drauf kommt, die „Kleine“ durfte ehrenvollerweise mitmachen. Sie waren mit einem kindlichen Ernst und Eifer bei der Sache und das über eine Stunde lang. Plakatgroße Spielkarten haben natürlich rein gar nichts mit Praktikabilität zu tun. Der vernunftgetriebene Erwachsene wird bitter enttäuscht. Hier entsteht auch keine Kunst, das ist nämlich auch Erwachsenenwelt. Aber das, was entsteht ist großartig und kommt ganz aus den Kindern selbst.
Dazu zählen auch selbst einstudierte Musikshows und andere Turnvorführungen. Stühle werden angeordnet, Tickets gebastelt und „verkauft“, Anweisungen ans Publikum gegeben, es wird geprobt und vorgeführt. Auch hier ist erstaunlich, wie flexibel mit auftauchenden Problemen umgegangen wird. Ah, es sind mehr Zuhörer*innen wie Stühle, dann gibt es eben noch ein paar Stühle. Das würde ich mir manchmal bei Konzerten auch wünschen. Hihi.

Wie lange noch?

Manchmal frage ich mich, wie lange ich diesem Zauber des kreativen Lernens die wohltuende Erfahrung von Selbstwirksamkeit, auch mit wenig Mitteln und Aufwand etwas entstehen zu lassen, noch zusehen darf. Wann werden sie endgültig mit der Leistungswelt und den gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert und müssen „es richtig machen“. In meinem Innersten hoffe ich, dass meine Kinder und unsere Kindergruppenkinder bestens gewappnet sind für das, was man Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nennt. Immerhin durften sie einmal ganz grundlegend erfahren, dass das, was sie tun und von sich aus und auch unverzweckt tun, von echter Bedeutung ist. Sie durften sich als Handelnde und als Gestalter*innen erfahren. Vielleicht müssen wir aber auch nicht fragen, sind sie bereit für die Welt, sondern eher: Ist die Welt bereit für sie?

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