Kinderbücher sind für Kinder da. So weit so klar. Allerdings sind manche Kinderbücher so verdammt gut gemacht, dass auch Erwachsene nicht genug davon bekommen. Ein paar dieser unverschämt schönen Bücher im Themenspektrum „Natur“ muss ich euch unbedingt vorstellen.
Alpenkino de luxe
Alles rund um die höchsten Erhebungen auf der Erde erfährst du in „Die Welt der Berge“ von Dieter Braun: wann und wie sie entstanden sind, was man zum Schifahren alles braucht, welche Tiere wie hoch im Gebirge leben, in welchen Ländern berühmte Berge in den Himmel ragen und wie Menschen sich richtig im Gebirge verhalten. Braun schreibt im Vorwort:
„Wo ich aufgewachsen bin, gibt es keine Berge. Es gibt dort viele Wiesen und Bäume, aber drum herum ist alles ganz flach.“
Wer hätte gedacht, dass ein Flachländler so einfühlsam über Berge schreiben kann. Auch die Illustrationen in diesem Buch sind eine Wucht. Kein Wunder, dass Dieter Braun immer wieder Preise abgestaubt hat, etwa von der Stiftung Buchkunst.
Mit einem Lupe-Symbol gekennzeichnet, finden sich schließlich Infokästchen im Buch, die wissenswerte Zusatzinformationen liefern. Braun schreibt etwa:
„Wusstest du, dass Gämse gerne rodeln? Im Winter, wenn in den Bergen viel Schnee liegt, setzen sie sich einfach auf ihr Hinterteil und rutschen den Hang hinunter. Gesteuert wird dabei mit den Vorderbeinen.“
Die Texte in „Die Welt der Berge“ lesen sich spannend. Zugleich erweisen sie sich in Auswahl, Länge und Komplexität als klar aufgeteilte und gut lesbare Wissenshappen, häufig mit einer Prise Humor versehen. Ganz großes Alpenkino ist das.
Das Buch ist erstmals 2018 im Knesebeck Verlag erschienen und 2019 bereits in 2. Auflage.
Wildnis meets Couch
Abenteuer und Wildnis, darum geht es in „The Big Book of Adventure. So überlebst du in der Wildnis!“ von Teddy Keen. Das Buch lässt nichts aus. Wie man einen geeigneten Lagerplatz findet, wie man das Große Geschäft im Freien erledigt, welche Regeln beim Schwimmen in der Wildnis zu beachten sind, wie sich Unterstände aus Holz bauen lassen und was sich als Notfall-Mahlzeit eignet.
Dieses Buch ist ein Kompendium, 192(!) Seiten stark rangiert es irgendwo zwischen „altem“ Pfadfinderwissen, dem Teilen unvergesslicher Naturerlebnisse in fernen Ländern und jeder Menge Bauanleitungen und praktischer Checklisten. Dass es sich um eine Geschichte in der Geschichte handelt, macht es nicht minder komplex. Der Autor des Buches gibt an, sämtliche Aufzeichnungen „in einer abgelegenen Gegend am Amazonas“ gefunden zu haben und sie hiermit sorgfältig geordnet der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Der wahre Verfasser, seines Zeichens Abenteurer, bleibe unbekannt.
„VOM STURM VERSCHLUCKT. Ich hatte schon von den Sandstürmen oder „Habubs“ in der Sahara gehört, aber noch keinen selbst erlebt. Gestern, kurz nach 14 Uhr, wurden die Kamele unruhig. Es lag etwas in der Luft – eine Schwere, die man beim Atmen spüren konnte. Kurz darauf erblickten wir erste Anzeichen des Sturms am östlichen Horizont. Bald schon dehnte sich eine riesige Staubwand aus, soweit das Auge reichte. …“
Ich sag’s gleich, die Opulenz ist die besondere Qualität dieses Buches, aber auch ihr leiser Fluch. Verlierst du dich gern in akribisch genauen (durchaus auch witzigen Nonsens-) Beschreibungen, magst auf nebulöse Weise Abenteuergeschichten und hast auch in der Stadttasche stets ein Taschenmesser für alle Fälle dabei, dann voilà bist du hier genau richtig und kannst viel Neues entdecken. Meine Empfehlung ist, das Buch nicht von vorn nach hinten zu lesen, sondern Lieblingsthemen „rauszufischen“. Das geht gut mit Kindern.
Nerven dich hingegen kleinteilige Zeichnungen, eine gewisse Textlastigkeit und die Neigung zu Übertreibung (wie sie Abenteurer/innen gerne zu eigen ist), dann wirst du dich – ob Kind oder Erwachsen – wohl weniger wohlfühlen mit diesem Buch.
Die Blaulastigkeit der Zeichenstriche ist jedenfalls etwas gewöhnungsbedürftig für’s Auge. Und zugleich ist es Höchstleistung, was hier an Skizzen, Zeichnungen und Panoramabildern geboten wird. Eine eigene neue Ästhetik kommt dabei raus.
Spannend auch, wie der „Wild Man“ liebevoll parodiert wird. Statt Manschettenschwingend durch den Dschungel zu streifen, versucht er alles technisch genau zu lösen. Bis hin zu dem Punkt, „wie man aus einer Hose einen Rucksack baut“:
„DU BRAUCHST: * Eine Hose, mind. 1 m Schnur. Im Notfall wird es dich nicht stören, nur in Unterhose durch die Wildnis zu spazieren. 1. Binde die Hosenbeine unten zusammen. 2. Falte die Hose nach oben und fädle die Schnur durch die Gürtelschleifen. Pack das Wichtigste hinein und schließe den ‚Rucksack‘ mit einer Schleife.“
Das Buch ist ideal für alle (Groß-)Stadtindianer und -innen, die gerne von der Couch aus überlegen, wie sie ihr nächstes Abenteuer in der Wildnis meistern. Wirklich einladen, eigene Abenteuer zu wagen, tut das Buch trotz dieser Intention nur bedingt. Zu komplex und fern der täglichen Lebenswelt sind die meisten Anleitungen.
Mit etwas Goodwill und Unterstützung der Eltern kann jedoch auf der Basis dieses Wissens mal im Garten gezeltet, eine Hängematte aus einem Bettlaken hergestellt oder Stockbrot mitsamt eigenem Lagerfeuer vorbereitet werden.
Insgesamt ist das Buch eher für ältere Kinder (ab frühestens 8 Jahren) zu empfehlen.
Original in Englisch ist das Buch 2019 auf Deutsch im Prestel Verlag erschienen.
So schön kann Brutpflege sein
Schließlich lege ich euch noch ein besonderes Buch ans Herz, das von Insekten und ihrer besonderen Brutpflege handelt: „Nester bauen, Höhlen knabbern. Wie Insekten für ihre Kinder sorgen“ von Anne Möller. Spektakulär bebildert in angenehmen naturnahen Farbtönen, zieht das Buch eine/n in den Bann und mitten hinein in den aufwändigen Nestbau so mancher Insektenarten zur Sicherung der nächsten Generation.
„Die Jungen von Insekten leben also gefährlich. Für Vögel, Spinnen und räuberische Insekten sind sie einfach Futter. Einige Insektenarten haben deshalb besondere Tricks entwickelt, um ihren Nachwuchs zu schützen.“
Hauptaugenmerk dieses bereits in 6. Auflage vorliegenden Buches liegt auf der besonderen Ästhetik der baulichen Gebilde, die zur Nachwuchssicherung geschaffen werden. Von außen besehen unscheinbar, legen sich Zigarrenwickler, Pillendreher, Pillenwespen, Blattschneidebienen und weitere verschiedene Wildbienen ordentlich ins Zeug.
In schön gestalteten Querschnitten kannst du bewundern, wie Schichten um Schichten an Blättern und anderem Material ausgeschnitten, weggetragen und in Höhlen kunstvoll eingebaut werden, in die die Eier gebettet werden. Einmal geschlüpft, können die Raupen sich satt essen, bevor sie als neue Insekten ihr Nest verlassen und der Kreislauf wieder von vorne beginnt.
Ja, diese Tiere haben es verdient, beachtet und geschützt zu werden. Mit neu erwachtem Blick streife ich seitdem durch Garten und Parks und freue mich noch mehr an jener Wildwespenart, die in den Lüftungsschlitzen unserer Balkonfenster ihren Nachwuchs heranzüchtet.
Dieses Buch ist kein umfassendes Insektenlexikon, es ist ein kleines feines Buch, das mit ruhigem Blick den kleinen Überlebenskünstlern ihren Respekt zollt.
Das Buch ist einfach geschrieben, Schritt für Schritt und in knappen Sätzen werden die Aktivitäten der Insekten beschrieben. Durch die großen Bilder kann das Buch bereits mit kleineren Kindern angeschaut werden, spätestens in der sogenannten „naturwissenschaftlichen“ Phase sollte dieses Buch auf jeden Fall als Pflichtlektüre gelten.
„Das gerollte Nest der Zigarrenwickler. Am Ende des Birnbaumzweiges macht sich ein kleiner blau-schwarzer Käfer zu schaffen. Es ist eine Zigarrenwicklerin, die ein Nest bauen will für ihre Eier. Mit dem langen Rüssel bohrt sie ein Loch in den Blattstängel, damit kein Saft mehr durch den Stiel ins Blatt fließt. Das Blatt fängt an zu welken. Nach einigen Stunden hängt es schlapp herab. Wenn das Blatt genügend welk ist, kann die Zigarrenwicklerin es aufrollen. In die Rolle hinein legt sie ihre Eier. …“
Atlantis, Imprint Orell Füssli Verlag, Erstausgabe 2004, 6. Auflage 2018. Ausgezeichnet mit dem deutschen Jugendliteraturpreis 2005: bestes Sachbuch.