Der Roman „Die Bagage“ ist ein handliches Buch, es umfasst gerade mal 159 Seiten. Die Autorin Monika Helfer hat ein sehr klares Buch geschrieben, jedes Wort sitzt und jeder Satz. Und doch hallt die Atmosphäre lange nach. Schließlich ist dieser Familienroman auf betörend-nüchterne Weise aufrüttelnd und zeigt, was es heißt, abhängig zu sein. In einem Dorf, als Frau, während der Zeit des Ersten Weltkrieges und knapp nach Kriegsende.
Eine Jederfrau-Geschichte auf der Shortlist
Persönliche Familienerinnerungen aus ihrer Kindheit hat die Autorin geschickt in die Romanerzählung eingewoben. Als „Bagage“ – in etwa schlechter Umgang, arme Leute – wird die am äußersten Dorfrand lebende Familie ihrer Großeltern Maria und Josef zeitlebens abschätzig genannt und findet sich nun titelgebend wieder. Die Schriftstellerin Monika Helfer stand zurecht mit „Die Bagage“ 2020 auf der Shortlist des österreichischen Buchpreises. Wie sie es schafft, eine Geschichte – im Grunde ihre eigene Vorgeschichte, die Zeit bevor ihre Mutter geboren wurde – so zu erzählen, dass sie zu einer Jederfrau-Geschichte während der Kriegsjahre im bäuerlich-ländlichen Raum werden kann, finde ich beeindruckend. Ihre sprachliche Präzision geht dabei unter die Haut. Der Dorfbürgermeister etwa meint an einer Stelle zu Maria:
„In Zeiten wie diesen sei es doch völlig egal, ob sie ihn einmal lasse, völlig egal. Niemand im Himmel schaut in diesen Zeiten in so ein Dorf am Ende eines Tals, das am Ende der Welt liegt. Was sie denn denke, das Josef in den italienischen Bergen so alles abziehe. Man bringt dort die Huren lastwagenweise in die Berge. Huren von überall her, bis von Afrika herauf. Schwarze Frauen, da könne ein Hiesiger auf keinen Fall widerstehen. Im Krieg ist alles erlaubt. Das weiß jeder.“
Das Leben abseits des Schlachtfelds
Die meisten Dialoge – bis auf jene im Zusammenhang mit den Dorfautoritäten – sind knapp gehalten, wie es den Protagonist*innen aus einem Vorarlberger Bergdorf zu Beginn des 20. Jahrhunderts wohl entsprochen haben dürfte. Monika Helfer erzählt vom Leben, das abseits des Schlachtfelds geführt wird, sie erzählt, wie es sich wohl zugetragen hat, mit welchen Dingen die Menschen ihres Heimatdorfs in Vorarlberg und insbesondere die als sehr schön beschriebene Großmutter konfrontiert war: dem Alleinerzieherinnenstatus während des Ersten Weltkrieges, den vielen Kindern und dem nicht immer ausreichendem Essen auf dem Tisch, den männlichen und übergriffigen Annäherungsversuchen, die mit Sorgfalt abgewehrt werden müssen, weil die Gunst auf der anderen Seite überlebensnotwendig ist und von der beeindruckenden Macht des Dorfbürgermeisters, ganz zu schweigen von den kriegsgebrochenen Heimkehrer-Männern. Das Buch erzählt aber auch von der Liebe, von Lust, von der Stärke der Frauen, ihrer Tatkraft und ihrem Erfindungsreichtum.
Die Herkunft der Autorin
Monika Helfer, 1947 in Au/Bregenzerwald geboren, scheut nicht davor, sich selbst in Ich-Form einfließen zu lassen und spricht, wie in Vorarlberg üblich, von den „Meinigen“, die zu den Protagonist*innen dieses Buches werden: Die Maria und der Josef – Helfers Großeltern; Und deren sieben Kinder, ihre Mutter Grete sowie Helfers Tanten und Onkel, bei denen sie zeitweilig mit aufwuchs, da ihre Mutter verstorben ist, als sie gerade mal elf Jahre war. Helfer erliegt in „Die Bagage“ jedoch nicht der Versuchung, emotional Position zu ihrem Familienerbe zu beziehen. Sie betrachtet das Leben ihrer Verwandten nach Selbstauskunft wie ein Gemälde. Und was sieht sie? Kleine Häuser und harte Arbeit, der Luxus eines einmalig neu erhaltenen Kleides, das frühe Erwachsenwerden von Kindern, Wortkargheit und das Vieh, das wie der Mist im Stall zum Leben einfach dazu gehört.
Lesen, einfach lesen!
„Die Bagage“ ist eine Familiengeschichte, Sittenbild dörflichen Lebens und ein Stück Zeitgeschichte in einem. Es ist ein Buch geschrieben für Frauen und Männer gleichermaßen und drängt sich meines Erachtens durchaus als Pflichtschullektüre für die Oberstufe auf. Denn „Die Bagage“ hat Bildungskanon-Qualitäten. Und das sage ich jetzt nicht nur, weil ich selbst aus Vorarlberg stamme und hier und da die Kriegsgeschichten meiner Ahn*inn*en wiederum im Ohr nachklingen und teilweise parallel schwingen höre. Nein, auch sprachlich überzeugt dieses Werk. Wie kann man nur so knappe Sätze schreiben, die so viel sagen? Monika Helfer hat zur hohen Kunst der poetischen Verdichtung gebracht, was ihrer Herkunftsfamilie wohl noch als Wortkargheit anhaftete.
„Die Bagage“ ist 2020 im Hanser Literaturverlag erstmalig erschienen und inzwischen auch als dtv-Taschenbuchausgabe erhältlich.
Das abgelichtete Papercut ist auf einer Vorlage von Marie-Christine Hollerith aus dem Buch „Zauberhaftes Papercut“, EMF Verlag, entstanden.