Anlässlich des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr war viel von „Alltag und Ausnahmesituation“ die Rede. Dieser Zusammenhang hat sich mir bis heute, mitten in Lockdown Numero 2, nicht erschlossen. Klar, für gewöhnlich gehen wir nicht mit Nasen-Mund-Schutz einkaufen und klar, normalerweise bellen wir unsere Kinder auch nicht zurück, wenn sie mit einer betagten Dame Kontakt aufnehmen. Nein, in Wahrheit unterstützen wir das sogar.
Aber mal ganz ehrlich, wer Kleinkinder zuhause hat, weiß doch, dass jeder Tag ein Ausnahmetag ist und dass jede Situation, allerspätestens wenn das eine Kind dem anderen eine Schere vor die Nase hält, zu einer echten Ausnahmesituation werden kann.
Kinder und Schreibtisch
So kürzlich erst erlebt. Ich war für die Kinderaufsicht zuständig und wollte mir nur ein paar Notizen machen. Ich saß gerade mal 10 Minuten am Schreibtisch, eh schon gewaltig lang, verdächtig lang, startete das Geschrei. Denn Putzen neben den Kindern geht ja, Essenmachen auch (wenn nicht zu spät und nicht zu lang), aber Lesen oder Schreiben no way. Man muss „wuseln“, das ist der einzige Daseinszustand der kinderkonform zu sein scheint. Daher ist das medial gern verwendete Bild einer karriereorientierten Frau, die topgestylt mit Baby auf dem Schoß den Konzernbericht am Laptop überprüft ja so göttlich. Kennt ihr noch die 10-Fehler-Suchbilder? Daran muss ich immer denken…
Ich brauche dich
Nach 10 Minuten, wie gesagt Rekordzeit, ging es los. Das kleinere der beiden Kinder brauchte mich und nur mich. Und nicht, weil ich so toll bin, sondern weil ich seine Mama bin. Das reicht zeitweise allen Kindern, um ihre totalen Inbesitznahme-Fantasien voll auszuleben. Funktioniert natürlich auch bei Papas. „Mama/Papa, du gehörst mir. Du hast mich an zu hören. Und zwar jetzt und sofort. Und wenn du meinst, du kannst irgendetwas anderes machen, als alle Antennen auf mich und nur auf mich und zwar dallidalli zu stellen, dann hast du dich gehörig geschnitten.“ „Deine Inspiration ist mir wurscht und was du genau mit mir machst, ist mir auch wurscht. Hauptsache, du bist für mich da.“ Heißt jetzt übrigens nicht, dass das Kind dann mit einem Schlag glücklich wäre.
Ausnahmsweise Maoam
Ständig ändern sich die Prämissen, kaum hast du dich an was gewöhnt, hast endlich ein Erfolgsrezept parat, kommt das nächste Unvorhergesehene daher. Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Was also bitte ist der Alltag mit Kindern denn anderes als ein permanenter Ausnahmezustand? Und dabei rede ich nicht von diesen beliebten Stehsätzen wie etwa: „Okay, du bekommst ausnahmsweise noch ein Maoam. Aber das ist das allerletzte für heute.“ Und dem „Ausnahmsweise-mal-im-Mamapapa-Bett-schlafen“ und dem „Ausnahmsweise-noch-einmal-ins-Wasser-gehen-obwohl-wir-schon-seit-einer-geschlagenen-halben-Stunde-aufbrechen-wollen“.
Beruf tickt anders
Nein, ich spreche vom hundsnormalen Familienalltag der Nicht-Ausnahmen, der eine ständige große „Ausnahme“ ist. Wenn wir den Berufsalltag als Norm nehmen. Weil dort gibt es Regeln und die werden für gewöhnlich eingehalten. Zum Beispiel, wenn der/die Vorgesetzte ein Gespräch wünscht, dann erscheinst du dort, wenn du deinen Job nicht verlieren willst. Und du schreist auch nicht deine Kolleginnen an, nur weil sie sich weigern, dir den letzten Geschäftsbericht zu zeigen. Zuhause gibt es auch Regeln, aber die sind – so scheint es – sehr, sehr dehnbar.
Und dann gibt es da auch noch die Liebe und die passt so überhaupt gar nirgendswo rein. Aber die ist natürlich besonders schön.
Ahoi, Mama Kapitänin!
Kurzum ich habe meine Pläne über Bord geworfen. Wenn mich die Muse küsst, dann hoffentlich später auch noch und ansonsten kann sie mir eben gestohlen bleiben, die Olle. Ich habe mich zu dem weinenden Kind begeben, es getröstet, ihm meine Liebe und Zuneigung bekundet und dann vorgeschlagen, dass wir jetzt alle zusammen Kuchen backen. Großer Begeisterungsansturm. Auf einmal geht alles ruckizucki.
Liebe geht durch den Magen
Der 6-Jährige schält die Äpfel mit einem Stolz, der sich gewaschen hat, die 2-Jährige schneidet die Äpfel mit einem genauso großen Stolz. Es werden Zutaten gewogen, gemixt, verrührt und natürlich – ganz wichtig – gekostet. Ich rotiere derweil von links nach rechts, Achtung hier und Achtung da, Rohr auf und Ins-Rohr-rein, 100 Fragen nebenbei beantworten und ebenfalls glückselig, weil alle mitmachen, weil keiner jammert, weil der Kuchen schon jetzt gut duftet. Auch das ist Alltag, nicht der Regeln und nicht der Ausnahmen, sondern der Rituale. Und die lieben wir am meisten.