Eine andere Welt. Andere Verhältnisse. Alles anders zu dem, was ich aus meinen Kindertagen kenne.
Wenn das Glück darin besteht, der Gewalt einmal zu entgehen. Wenn Kindheit nur ein Wort aus einer fernen Erzählung ist. Wenn Frauen sich zusammentun, um nicht das Wenige zu teilen, sondern gnadenlos Geschäfte zu machen. Weil Geschäfte zu machen nicht nur das Überleben sichert, sondern auch den Kopf oben belässt.
Die Autorin Tatiana Ţîbuleac bringt unprätentiös auf den Punkt, was es heißt, in Armut im Moldawien der Achtziger- und Neunzigerjahre hineingeboren zu sein. Als Kind, als heranwachsende Frau, in einem der Höfe der Stadt. Sie erzählt die Geschichte von Lastotschka, die sich, inzwischen zur Chefärztin hochgearbeitet, an ihre Kindertage erinnert, zunächst im Waisenhaus, danach als Flaschensammlerin bei ihrer Ziehmutter Tamara Pavlovna.
Dabei verwendet Ţîbuleac eine Erzählweise und Sprache, die zugleich poetischer nicht sein könnte. Manche Sätze treffen wie Nadeln ins Fleisch. Und bleiben doch wertungsfrei. Das zeichnet die vormalige Journalistin Tatiana Ţîbuleac besonders aus. 1978 in Chişinău in der heutigen Republik Moldau geboren und seit 2008 als Schriftstellerin in Paris lebend wurde sie nicht umsonst mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet.
„Manchmal kommt es mir so vor, als lebte ich allein in meinem Kopf, und auch dort nur zur Miete.“
Die Sätze und Kapitel lesen sich häufig aphorismenartig. Es sind Kapitel ohne Überschriften in unterschiedlicher Länge, häufig sehr kurz, die ein bestimmtes Kapitel im Leben der jungen Lastotschka aufschlagen. Besonders auffallend ist der Wert der Sprache, sie ist wie eine Währung, die sich ständig ändern kann. Welche Sprache wird in der Schule gesprochen? Russisch oder moldauisch? Welche Ausdrücke gibt es in einer Sprache, wo fehlen Ausdruck und Worte hierfür in der anderen? Um dann wieder eine neue und zunächst fremde Sprache erlernen zu müssen: das Rumänische.
Eines steht fest: hier ist die Sprache kein Mittel des Einschlusses, sondern häufig des Ausschlusses. Sie ist die falsch gesprochene, die fehlende, die schmerzhafte.
„So viele Jahre sind nun vergangen, seitdem ich nach Bukarest gekommen bin, und es hat sich nichts geändert. Immer noch bin ich ‚die Russin‘. Die Sprache und die Angst: Zu dem Preis, zu dem sie mich kaufen, verkaufen sie mich auch.“
Dieses Buch und die darin beschriebenen Frauenschicksale haben mich gefesselt. „Der Garten aus Glas“ gibt einen Einblick in das von Umbrüchen geprägte postsowjetische Moldau und überzeugt durch seine sprachliche Schönheit. Diese Autorin steht ganz fett auf meinem Merkzettel.
Tatiana Ţîbuleac: Der Garten aus Glas. Frankfurt am Main 2023. Schöffling & Co.