Kann Spiel überhaupt unfrei sein? Spiel ist doch immer frei. Weil ansonsten wäre es wohl eher Arbeit oder Training, jedenfalls deutlich fremdgesteuerter. Die Betonung der Freiheit im „freien Spiel“ geht auf ein Konzept zurück, das sogenannte ursprüngliche Spielsituationen ermöglichen will. Spielsituationen, die sich nicht an einem klaren Spiel- und Lernziel ausrichten, sondern in erster Linie im freien Umgang zwischen Kindern spontan entstehen, aber auch im versunkenen Spiel mit sich selbst.
Offene Gestaltung
Das freie Spiel ist somit eine Rückbesinnung auf das Elementare im Spiel. Deshalb sind wenige, sehr offen gestaltete und in mehrfacher Hinsicht verwendbare Materialien und Gegenstände gefragt. Decken, Tücher, einfache Holzklötze, Seile, vielleicht noch Puppen oder Stofftiere. Das Spiel selbst entsteht aus der Interaktion der Kinder heraus. Sie entwickeln es im Bezug aufeinander, im freien Lauf ihrer Ideen, wenn sie sich ungestört in einem wertfreien Raum und idealerweise auch unbeobachtet fühlen.
Zum Beispiel Rollenspiel
Wenn mehrere Kinder frei miteinander spielen, wird oft sehr viel verhandelt. „Du bist jetzt die Einkäuferin und kommst zu mir her etwas einkaufen.“ „Nein, ich bin nicht die Einkäuferin, ich bin der Vater.“ „Gut, dann bist du der Vater, der zu mir einkaufen kommt.“ „Vielleicht bin ich doch jetzt ein Kind und ich konnte schon einkaufen und ich kaufte ein Essen ein und einen Rasenmäher.“ Das erste Kind hält dem zweiten die Hand einen (unsichtbaren) Gegenstand hin, das andere Kind nimmt es und meint: „Mmmh. Das schmeckt gut.“ Fertig.“ In der Zwischenzeit kommt ein weiteres Kind dazu und fragt: „Darf ich mitspielen?“ (Die beiden andere Kinder sehen sich an und überlegen kurz …).
Die begleitenden Erwachsenen
Die Kinder sind also die freien Akteur*innen ihres Spiels, sie sind nicht angeleitet (etwa zu einem bestimmten Spielverhalten) und erfahren daher sehr viel Selbstwirksamkeit. Erwachsene sind während der Spielzeit nicht unbedingt zugegen, aber in Hör- und Rufweite. Sollte es Unterstützungs- und Klärungsbedarf benötigen, können sie helfen. Meist fragen die Kinder selbst nach, wenn sie Unterstützung brauchen, etwa bei einem unauflösbaren Konflikt. Denn freies Spiel ist nicht nur ein Friede-Freude-Eierkuchen-Spiel. Wenn man etwa nicht mitspielen darf, da geht es um was. Da kann Wut und Trauer entstehen. Für die begleitenden Erwachsenen, Pädagog*innen oder Eltern wiederum ist das freie Spiel eine Schulung in achtsamer Selbstzurücknahme.
Freiheit zulassen und Lebendigkeit gewinnen
Kürzlich etwa haben meine Tochter und das Nachbarskind eine längere Zeit in herrlich kreativen Rollenspielen ganz vertieft gespielt. Auf einmal kamen sie auf die Idee, das Balkongeländer aus Holz mit Farbe zu „verschönern“. Da ertappte ich mich dabei, wie ich schon aufschreien will, „Nein, das geht nun aber wirklich nicht.“ In letzter Minute ruderte ich noch zurück und machte einen inneren Kurzcheck: „Wie problematisch ist das wirklich? Moment, sie wollen bloß Kreide verwenden. Das ist schnell wieder weg und hinterlässt keine Spuren. Vielleicht wollen die beiden mir nachher sogar helfen … Okay, damit kann ich leben.“ Und ich habe es nicht bereut. Ihre Freude und Lebendigkeit hat sich direkt auf mich übertragen. Und es war so schön bunt, dass wir es sogar noch ein paar extra Tage so beließen.
Prozesshaftes Lernen
Manchmal ist das freie Spiel von außen nicht immer nachvollziehbar, häufig auch wiederholend und langsam. Etwa wenn Kinder in der Sandkiste stundenlang kleine Wasserexperimente machen, wenn sie Rinnsale bauen und beim Versickern zusehen oder den Sand auf das Kies kippen, um zu sehen, wie sich Sand mit Kies vermischt. Dabei wird nicht unbedingt immer an etwas gebaut. Es geht dann weniger um Funktionieren und Nutzen als um Sein und Ausprobieren/Erproben. Statt einer wohlgeformten Sandburg gibt es häufig jede Menge Gatsch und womöglich Unordnung aus Erwachsenensicht. Und all das ist so wesentlich für das Selbst- und Weltverständnis der Kinder. Mit allen Sinnen zu erfahren und zu sehen, wie sich Materialien und Elemente zueinander verhalten und was ich als Person dabei für eine Rolle spiele.
„Wenn Kinder spielen, leben sie ihr ‚divergent thinking‘ aus. Wenn sie dabei ungestört bleiben, verlieren sie ihre bewertungsfreie Überzeugung nicht, das sie gerade die richtige Peraon am richtigen Ort zur richtigen Zeit sind. Ihre Welt dabei verstehbar, gestaltbar und sinnhaft.“
André Stern,
Die Nachhaltigkeit von freiem Spiel
Freies Spiel fördert Intelligenz. Die Kinder lernen wie von selbst und ganz nebenbei. Es lässt kreative Lösungsansätze finden, was auch im Erwachsenenleben noch hilfreich ist. Da nennen wir es dann gerne die Fähigkeit zum „Out of the box“-Denken. Und es ist eine klasse Übungswiese für soziales Miteinander.
Kinder, die früh viel frei spielen durften, werden auch wenn sie bereits älter sind, auf diese Ressource zurückgreifen können. Sie können ganze Welten entstehen lassen, Frust „wegspielen“ und sich im Spiel neu erfinden und aufeinander zugehen.
Literaturhinweise:
Gerald Hüther, Christoph Quarch: Rettet das Spiel! Weil Leben mehr als Funktionieren ist
Gabriele Pohl: Kindheit – aufs Spiel gesetzt. Vom Wert des Spielens für die Entwicklung des Kindes
Elisabeth C. Gründler, Norbert Schäfer: Naturnahe Spiel- und Erlebnisräume
André Stern, Spielen, um zu fühlen, zu lernen und zu leben