Die Schriftstellerin Yasmina Reza kenne und bewundere ich spätestens seit der Verfilmung ihrer Romanvorlage „Der Gott des Gemetzels“ mit Jodie Foster, Christoph Waltz und anderen Hollywood-Granden. Beklemmend und mit viel Wortwitz spielt sich hier ein irre spannendes Sittenportrait großbürgerlicher Dekadenz ab. Nur auf die Idee gekommen, etwas von ihr zu lesen, bin ich nun doch wieder nicht. Und da leiht mir kürzlich eine gute Bekannte „Serge“ und ich finde das Buch von der ersten Seite an ungemein unterhaltsam.
Eine jüdisch-französiche Familie besucht Auschwitz
Auf Vorschlag von Serges Tochter Joséphine besuchen die drei nicht mehr ganz jungen Popper-Geschwister Serge, Jean und Nana gemeinsam Auschwitz, um ihren ungarisch-jüdischen Wurzeln nachzugehen. Selbst an diesem Ort geht das kleinteilige Hickhack zwischen den Geschwistern munter weiter, kommen Kränkungen, unerwünschte Einmischungen und Unzufriedenheiten auf den Tisch. Aber auch Vermittlungsversuche und das Faktum eines unauflösbaren gemeinsamen Bandes werden sichtbar. Der charismatische Schwerenöter Serge ist übrigens sowohl im französischen Original als auch in der deutschen Übersetzung titelgebend. Sein weitaus zurückhaltenderer Bruder Jean wird sich als Ich-Erzähler herausstellen.
Meisterin von unbestechlicher Klarheit
Die Sätze der großen Reza sind kurz gehalten und klar und bestechen in der Treffsicherheit der Charaktere. Ja, so könnten diese Dialoge wirklich gewesen sein. Ja, so ist das in einer Familie. Kompliziert, manchmal bissig, dann wieder ungemein rührselig und nah.
„Ist dir nicht heiß, Papachen, in deinem Anzug?“
Aus „Serge“ von Yasmina Reza
„Doch, doch. Aber in Auschwitz werd ich mich nicht beklagen.“
Ein Roman über alternde Machos
Reza ist eine Meisterin der perfiden Beziehungslogik und darin ganz Pariser Französin. Da darf auch die kulinarisch-lukullische Seite nicht zu kurz kommen, ganz zu schweigen von der schwelenden wechselseitigen geschlechtlichen Anziehungskraft, manchmal auch nurmehr als Erinnerung. In diesem Roman sind es nämlich vor allem die Geschichten von alternden Machos, die Raum einnehmen. Yasmina Rezas Roman ist an vielen Stellen ein Roman über das Älterwerden, über Krankheit und Sterben. Die tragischkomische Note, die den Roman durchzieht, ist gelungen. Auf eigenwillige Weise offenbart sich Respekt vor der Würde im Alter, selbst wenn die Bilder von Pflege und Care-Arbeit im Roman allenfalls sehr großbürgerlich ausfallen. „Serge“ ist definitiv kein gesellschaftskritisches Werk und bestimmt kein feministisches.
„Ein einziges Bild kann einen ganzen Menschen enthalten.“
Aus „Serge“ von Yasmina Reza
Sätze zum Mitnotieren
Yasmina Rezas Sprache ist genial. Jedes Wort sitzt. Sie produziert zitierwürdige Sätze und die kommen ganz nonchalant daher. Aber so beeindruckend ich die Dialoge finde, gänzlich voraussetzungslos finde ich den schnellen Schlagabtausch der Protagonist*innen dann doch wieder nicht.
Und was für ein Gefühl bleibt nach der Lektüre zurück? Leere? Anmut? Eine stille Fröhlichkeit oder Trauer? Entscheide selbst.
Yasmina Reza: Serge. München 2022. Hanser Verlag