Lange habe ich mich nicht an ein „Coronabuch“ herangewagt. Zu nah dran am eigenen Leben, zu unlustig. Und wie so viele wollte auch ich mich zu Beginn der Coronapandemie in der Hoffnung wiegen, dass schon bald alles (wieder) gut wird. Und irgendwie kam dieser Punkt in den ersten eineinhalb Jahren so richtig nie: zunächst die ungreifbare Krankheit selbst, dann die Maßnahmen und schließlich all die Konflikte, die mit den Maßnahmen einhergingen, inklusive der psycho-sozialen Folgeerscheinungen, ganz zu schweigen von der selbstverständlichen Mehrfachbelastung von Familien und insbesondere der Frauen in den Familien. Der soziale Kitt wurde zum sozialen Druck und zur Überforderungsfalle für Frauen. Und genau hier setzt der Roman „Die Wut, die bleibt“ der 1983 in Hallein bei Salzburg geborenen Autorin Mareike Fallwickl an.
Sie bringt es nüchtern auf den Punkt, wenn sie folgendes Gedankenexperiment schriftstellerisch umsetzt: was, wenn eine Frau und Mutter sich dieser Zumutung nicht mehr stellen will oder kann und einfach ernst macht? Wenn die dreifache Mutter Helene – so heißt sie im Roman – eines Tages unangekündigt vom gemeinsamen Abendessen aufsteht, zum Fenster geht und springt?
Der Sprung aus der Wirklichkeit
Es ist eine Tat im Affekt, es gibt keinen Abschiedsbrief, Mann und Kinder bleiben geschockt zurück, ebenso die Freundin. Alle werden nun lernen müssen mit dieser neuen Art von Zumutung – die jugendliche Tochter nennt sie „THE END'“ – umzugehen. „Die Wut, die bleibt“ ist eine Wut der Hinterbliebenen, ihre Weise der Konfrontation mit etwas, was nicht sein darf, wofür es keine Worte gibt. Und es ist die Wut, die bleibt, wenn Frauen verschmäht, beschämt oder über Gebühr und einseitig mit Care-Aufgaben bedacht werden. Auch die Freundin, sie heißt Sarah, die sich zunächst der Kinder ihrer verstorbenen Freundin Helene annimmt, muss erkennen, dass sie ihr eigenes Lebensprojekt nicht aufgeben kann und darf. Doch Selbstermächtigung ist und wird möglich, wenn frau* sich der Wut stellt.
Wut und Selbstermächtigung
Sich der Wut ganz hinzugeben, birgt allerdings auch Gefahr, wie am anderen Erzählstrang, der Geschichte der jugendlichen, immer gewaltbereiteren Tochter Lola deutlich wird. Auch hier hat Mareike Fallwickl ein Gedankenexperiment zu Ende gedacht: was, wenn auf Gewalterfahrungen, insbesondere in Reaktion auf sexuelle männliche Gewalt mit der gleichen Brutalität geantwortet wird? Rasend vor Wut und sehr körperlich. Es sind diejenigen Passagen im Roman, die beklemmend wirken, die die Leserin/den Leser in eine schwierige Situation der Identifikation bringen. Mareike Fallwickl gelingt es ganz nebenbei auch die „Welt der Jugendlichen“ aufzugreifen: die knappen Diaoge, das Abhängen und die Langeweile, der Gerechtigkeitssinn, die Orientierungslosigkeit und Cliquenbildung. Aber auch die wachsenden Eltern-Kind-Konflikte sind Thema:
„‚Und du?‘, fragt Sarah und streicht sich die Haare zurück. ‚Was bist du?‘
Lola denkt an Mama. An die Reibereien, die sich aufgetürmt haben zwischen ihnen im letzten Jahr. Nicht nur wegen dem Lockdown, wegen der ausweglosen Situation und dem Generve der Jungs, sondern wegen Mamas Abwehr. Lola hat plötztlich so viel Zeit gehabt für Bücher und für aufklärende Accounts auf Instagram, und zum Nachdenken auch. Sie hat gescrollt und aktualisiert, sich Videos angeschaut, gelesen, gelesen, gelesen. Und jede weitere Information hat Lola aus sich selbst hinausgeschoben, wie bei einem Tierchen, das sich häutet.“
Eine Gegenwartspoetin: nüchtern und schonungslos
Fallwickl ist schonungslos in ihrem Erzählen. Sie ist eine Gegenwartsliteratin, die ein besonderes Talent für Dialoge und Leerstellen hat. Die Charaktere sind glaubwürdig in ihrer Versehrtheit und in ihrer Suche nach neuem Handlungsspielraum. Die Geschichte zieht sofort in ihren Bann und hinterlässt was genau? Wut, Trauer, Hilflosigkeit, Jetzt-erst-recht? „Die Wut, die bleibt“ ist für mich neben Gesellschaftskritik in Romanform auch ein Entwicklungsroman mit noch offenem Ende. Der Familienvater erwacht peu à peu aus seiner Lethargie der Trauer und Hilflosigkeit, die Freundin stellt sich ihren aufgeschobenen Entscheidungen und die heranwachsende junge Frau Lola, die das Hochgefühl des Empowerments einer Frauengruppe kennenlernt, muss ihren Weg erst noch finden. Schließlich vollbringt Fallwickl mit ihrem Buch eine Art Dringlichkeitsattest für feministische Theoriebildung und das auf verführerische Weise in einen Roman verpackt. Lesenswert.
„Die Wut, die bleibt“ ist bereits in 2. Auflage im Rowohlt Verlag erschienen.